Charaden von Schachtelmenschen
Zur Uraufführung von Paul Wenningers großem Stück „tubed“ im Tanzquartier Wien

Von Helmut Ploebst (12.1.2008)

Über einige hervorragende Arbeiten hat sich Paul Wenninger spätestens seit 2005 konsequent zu einem der avanciertesten Choreografen der österreichischen Tanzszene entwickelt. Mit „tubed“ ist ihm nun ein Bühnenstück von internationalem Format gelungen.
Waren es in der im Frühling 2007 uraufgeführten Choreografie „Imbue“ noch Objekte, die immer wieder zu neuen Orten und Szenen umgruppiert wurden und in ihrer Bespielung die Struktur eines Krimis ergaben, so sind es nun Kartonboxen, die das menschliche Umfeld auf dem Tanzboden bilden. Und in der immer noch vorhandenen Erzählung spielt eine hochspezifische Auffassung von Dekonstruktion nun eine wesentlich stärkere Rolle.

Selbstbauexistenzen
Von Beginn an versetzt der Choreograf seine „tubed“ Personnage in eine Schachtelwelt, in eine Gesellschaft, in der alles so konstruiert sein muß, daß es möglichst effizient in eine gut stapelbare Verpackung paßt. In eine Gegenwart der Selbstabholer also, die ihr Leben der Vergünstigung und dem Sonderangebot geweiht haben. Die Selbstabholung bezeichnet ein System potentieller Leistbarkeit und faktischer Ausbeutung. Die Dienstleistung wird zur Hilfe zur Selbsthilfe, wörtlich zur Hilfe zu einem Selbst, das sparsam abgeholt und anschließend zusammengebaut werden kann.
Die Tänzerinnen, Rotraud Kern und Magdalena Chowaniec, und Tänzer – Wenninger selbst, Michael O’Connor und Gerwich Rozmyslowski – repräsentieren solche Selbstbauexistenzen, die ihre Körper dem Abholerprinzip ausliefern. Nein, sie springen nicht aus den Kartons, und abermals nein, sie schrauben nicht an Ikeamöbeln. Sondern sie sind bereits fertig in sich geschlichtet und müssen sich nur noch nahtlos in das Verpackungsgefüge der Handlungen einfügen, die ihnen ihre Umgebung aufschwatzt.
Kartons sind redselig. Sie bringen alle ihre Funktionen als Diskurse und Assoziationsauslöser mit. Schon der Bühnenraum in seinem Schachtelformat verstärkt die Rede der Pappboxen, die von den Darstellern ohne Unterbrechung zu immer wieder neuen Situationen gebracht werden und in einem Tanz der Reorganisation nach strenger Choreografie charadieren, den Prozeß der Verschachtelung wie ein Perpetuum mobile immer weiter einfordern, so lange, bis anscheinend Schluß ist. Aber Schluß wird nur, weil die Inszenierung das verlangt. In den Köpfen des Publikums jedoch, das „tubed“ ja verpacken und mitnehmen muß, geht das Spiel weiter – bewußt oder unbewußt.

Film im Kopf
Wenninger inszeniert wie ein Cutter. Er stellt einen Film auf der Bühne nach, der wie aus unzähligen Szenenschnipseln zusammengestellt scheint. Am Beginn und gegen Ende hin taucht ein Laptop auf, der von seinem Eintipper kaum erreicht wird, dem Erzähler als Rahmenfigur, die selbst nur als Collage agiert. Die Bühne wird zur Live-3D-Screen, in der Szenen ausgepackt, her- oder besser nachgestellt und – Schnitt – von einer nächsten abgelöst werden, noch bevor sich der Film im Kopf, den die Szenen auslösen, im Nachgestelltwerden einlösen kann.
Aus den Schachteln teufeln Lampen, Flaschen, Gläser, Tücher und verschwinden wieder, werden als Stücke versetzt, rückgesetzt, dorthin, wo sie bis zum nächsten Auftritt als Übersiedlungsgut bestens aufgehoben sind. Die Tänzer agieren als Schatten und Träger der Boxen respektive Requisiten. Sie lassen tanzen und werden getanzt, vertanzt, sie tanzen an und ab, obwohl sie selten „tanzen“ (nur in wenigen Szenen, wenn sie ihre Handlungen einfalten, würden manche Tanz erkennen). Die Schachtel ist größer als der Mensch, sie stellt das Geformte dar, das formt, sie ist das Grundprinzip der Architektur aus dem Planen, dem Plan, etwas in die Welt zu stellen oder etwas Welt in einen Hohlraum einzustellen: das „Ecce homo“ als Kubatur.

Geschlaucht und geröhrt
Und als Archiv. Wie aus einem solchen räumen die Tänzer die Dinge hervor oder bauen Dinge aus den Boxen: Tische, Betten, Schränke, eine Tür oder Sitzgelegenheit, damit die Handlungsausschnitte ihre Requisitenbasis haben, damit der Film als solcher erkennbar wird. Übersetzen wir den Titel des Stücks wörtlich, dürfen wir das im Österreichischen mit „geschlaucht“, was strapaziert und erschöpft meint und damit in die Bedeutung von „exhausted“ führt, zu jenem Begriff, den André Lepecki für ausschöpfende Erweiterung des Tanzbegriffs während der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte setzt.
Geschlaucht und geleert wird bei Wenninger allerdings das Klischee vom Tanz, wie es in den Köpfen des Konservativismus geistert. Der Choreograf packt dieses Klischee weg wie ein Bild mit röhrendem Hirsch (und wer ist nicht versucht, „tubed“ mit „geröhrt“ zu übersetzen, wenn es schon um Ableitungen geht!). Tatsächlich verbinden sich über diesem Einmotten die Informationen in „tubed“ aus den Szenenschnipseln zu einem Diskurs über unsere Gesellschaft, als ob sie mit unsichtbaren sinnbefördernden Röhren miteinander verbunden wären.
Da schießt etwas in die Adern der Performanz, das ganz entschieden frisches Blut ist, welches die Choreografie hat und weiter braucht, um jenen drögen Rückwärtsruderern, die derzeit allenthalben aus ihren Versenkungen springen (körperlose Köpfe, die – huch! – durch Federn festgehalten über ihren aufgeplatzten Särgen auf der Stelle hüpfen) eine Zukunft entgegenzuhalten. Mit Durchblick, Mut und künstlerischer Diskursfähigkeit schafft Paul Wenninger so etwas. „Tubed“ ist eine Arbeit für die progressive europäische Choreografie von heute. Unbestreitbar.

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Verschachtelt
Paul Wenninger erzeugt aus Fragmenten Bilder im Kopf

Paul Wenninger / Kabinett ad Co. „tubed“, Tanzquartier, 10.1.2008

Von Ditta Rudle

Ein weißes Tuch (Leintuch, Leichentuch?) auf der Wiese feucht geworden, färbt sich auf dem Tisch rot. Mord. Die Frau steht mit dem Polster in der Hand vor dem schlafenden Mann. Noch ein Mord. Oder bilden wir uns das nur ein. Können die roten Flecken auch vom verschütteten Wein stammen, wird der Polster nur ausgeschüttelt? Gekonnt spielt Paul Wenninger in seiner neuen Performance „tubed“ (verrohrt) mit dem konditionierten Gedächtnis, mit den Vor-Urteilen des Publikums. „Wir erkennen, was wir kennen!“, bietet das Programm, in Anknüpfung an die Produktion „Imbue“,als Merksatz an.

Drei Tänzer (Michael O’Connor, Gerwich Rozmyslowski, Paul Wenninger) und zwei Tänzerinnen (Magdalena Chowaniec, Rotrau Kern) bewegen sich scheinbar zufällig und spontan auf der mit Quadern und Kuben aus Pappendeckel voll gestellten Bühne (Leo Schatzl), stellen die Schachteln auf und legen sie um, arrangieren sie zu Gruppen und Türmen. Ganz klar: sie möblieren Räume. Bald stellen sie auch kleine Objekte auf, Lampen, Vasen, Teller und Besteck. Fragmentarische Szenen entstehen. Man sitzt bei Tisch, aalt sich auf der Couch, betrinkt sich sinnlos und sieht das gesamte Zimmer in Schräglage.

Mit den für Wenninger typischen streng formalen, eckigen Bewegungen führen die Fünf ihren Tanz auf, erobern immer neu entstehende Räume. Was der Tänzer und Choreograf beweisen will, gelingt mühelos: Im Kopf entstehen aus den zusammenhanglosen Szenen spannende Geschichten. Reine Form, bedeutungsloses Agieren, sinnloses Handeln, nicht einzuordnende Objekte mag das Gehirn nicht verarbeiten und unterlegt dem Tun und Lassen Sinn und Narration. Im Arrangement der Schachteln sehen wir Tisch und Bett und Schrank und Stuhl. Der sich betrinkende Sportler hat sicher ein Dopingproblem, das Paar im Restaurant steht vor der Scheidung, die allein am Tisch sitzende Frau sehnt sich nach Liebe. Doch die TänzerInnen agieren nicht mit Emotionen, verziehen keine Miene, treten nicht in Kontakt miteinander, sind selbst längst Objekte geworden, die verschoben und arrangiert werden, wie die leblosen Versatzstücke.

Wenninger arbeitet genau und formal präzise und hat mit dem in Wien lebenden Schweizer Reto Schubiger einen großartigen Lichtregisseur eingesetzt, der subtil und mit weichen, überraschenden Übergängen den im Kopf entstehenden Geschichten eine ganz eigene Aura gibt.

Wenninger spielt mit den Erwartungshaltungen des Publikums und eine davon ist wohl auch, dass eine abendfüllende Vorstellung eine bestimmte Länge haben muss. Diese zu erfüllen, führt, nicht nur bei „tubed“, zu Redundanzen und Längen. Diesseits und jenseits der Rampe sollte man von Goethe lernen: „Getretener Quark wird breit, nicht stark.“ Wo bei sicher ist, dass Goethe ein Topfenliebhaber war.