Über den Tanz

anlässlich der Plates-formes Internationales, vor den VIIe Rencontres chorégraphiques de Seine-Saint-Denis

Von Plínio Walder PRADO

Man hat mich um einen Kommentar zu den Stücken, die in Belfort anlässlich der Plates-formes Internationales 2000 gezeigt wurden, gebeten. Dies scheint einfach, läuft, offen gesagt, jedoch darauf hinaus, mir ein „ästhetisches Urteil“ abzuringen. Dieser Aufgabe will ich nun im vorgegebenen Rahmen nachkommen. Alles, was folgt, habe ich ohne Vorbereitung verfasst.

1. Es wird so getan, als gäbe es anerkannte, allgemein gültige Kriterien, wie Stücke zu beurteilen sind; weiters scheint es selbstverständlich, diese Kriterien auch anzuwenden. Nichts aber ist heute weniger selbstverständlich als die Frage, nach welchen Kriterien Stücke zu beurteilen sind; dies nämlich ist heute in der zeitgenössischen Kunst am vorrangigsten. Es wäre deshalb das einzig Richtige, eine „Erklärung“ (d.h. eine Zusammenfassung) dieser Fragestellung zu vermeiden. Offenkundig ist, dass heute alles, was „Geschmack“ betrifft, sehr relativ ist; wir befinden uns sozusagen an einem Nullpunkt der Kultur, wo alles, was gefällt, erlaubt ist, denn es heißt ja auch so treffend „jedem das Seine“ – genau deshalb, ich würde sogar sagen wegen diesem „Gefälligkeitsdenken“, darf aber die Frage, nach welchen Kriterien Stücke zu beurteilen sind, nicht vermieden werden. Ganz im Gegenteil: sie muss gestellt werden, wenn man das interrogative Erbe der modernen Kunst wahren und nicht diesem „Gefälligkeitsdenken“ und der allgemein vorherrschenden Verwirrung darüber anheimfallen will.

2. Das Choreographieren selbst hat sich, wie auch die zeitgenössische Kunst und Literatur, ständig mit der Frage nach den Beurteilungskriterien zu beschäftigen. Dies beschränkt sich nicht nur auf den Tanzliebhaber (oder den Kritiker), sondern stellt sich auch beim Erarbeiten eines Stückes, beim Prozess des „Schaffens“, beim Kreieren. Was bedeutet es heute tatsächlich, zu tanzen, nach einem der wunderbarsten Jahrhunderte in der Geschichte des Tanzes, in dem Tänzer und Choreographen ständig die Grenzen dessen, was Tanz ist und was Tanz nicht ist – Gestik, Mimik, Bewegung -, auszuloten und die Grenzen dessen, was für „tanzbar“ gehalten wurde, zu erweitern suchten?

Wie sollten Choreographien beurteilt werden, wenn diese sofort wieder ein allgemein gültiges Beurteilungskriterium nach dem anderen aufhoben? Wenn Tanz die Kunst, mit dem Körper, khoreia, zu Schreiben, graphein, ist, die Kunst, Körperformen oder Körperbewegungen in Zeit und Raum zu übertragen, wie also oder was also sollte man heute schreiben, choreo-graphieren, nach diesem Jahrhundert, in dem, von Nijinski bis Cunningham und darüber hinaus, nicht nur die Voraussetzungen des Choreographierens schwindelerregenden Experimenten und Diskussionen unterworfen, sondern auch Zeit, Raum und Körper von der Entwicklung der Technik und der Wissenschaft stark beeinflusst worden sind?

3. Man wird antworten, dass Tanz von genau diesen Fragen lebt, dass Tanz der Versuch ist, all das, was man früher „Experimentieren“ nannte und heute als „Forschen“ bezeichnet, zu verkörpern. Wenn Tanz ständig die Frage nach den Beurteilungskriterien aufwirft (bzw. diese auch wieder infrage stellt), so deshalb, weil die Verantwortung gegenüber dem Prozess des Forschens, des Schaffens, dies verlangt. Eine Frage wurde im letzten Drittel des Jahrhunderts allerdings geklärt: die Geschichte der Bewegung durch die Forschungen auf dem Gebiet der Choreographie (einer Geschichte, der auch der Ton in der Musik oder das Wort, sein Inhalt oder sein Klang in der Literatur unterliegen). Heute geht es darum, die Bewegung vom Zwang des Erzählens oder des Darstellens zu lösen (auch was Zeit und Raum betrifft), Bewegung Bewegung sein zu lassen. Anders ausgedrückt, „mit dem Körper zu schreiben“, zu choreo-graphieren, ist nicht mehr Haltung oder Intention ( auch nicht „Intention des Stücks“), sondern vielmehr Intensität, Eventualität; Choreographieren unterliegt nicht mehr einer Semantik, sondern vielmehr einer „Energetik“. Wenn also einzelnen Bewegungsformen beim Choreographieren ständig mißtraut wird, so deshalb, weil in vielen Choreographien immer noch versucht wird, Dinge darzustellen, die nicht darzustellen sind (wie auch immer diese Versuche dann bezeichnet werden: Energie, Materie oder auch Präsenz). (J.-F. Lyotard sagte mir, Kunst sollte als Bewegung von Raum-Zeit-Materie betrachtet werden. Genau dies ist die Kunst des Choreographierens. Und genau deshalb hielt Nietzsche Tanz für das Ideal des Denkens selbst – ein Hinweis, der den Denkern unter den Choreographen ein weites Feld an Forschungen öffnen sollte.)

4. Sobald man von etwas wie Bewegung spricht, hat man einen Anhaltspunkt, der „ästhetische Urteile“ ein wenig legitimiert. (Damit kann man sich in der Folge auch der allgemein fehlenden Urteilsfähigkeit entziehen.) Dies wiederum hat zur Folge, dass Choreographien von zeitgenössischer Kunst ausgehend zu beurteilen sind. (All dies schafft die Voraussetzungen für eine zeitgemäße „ästhetische“ Sensibilität, die, wie bereits erwähnt, davon geprägt wurde, Dinge, die nicht darzustellen sind, darzustellen.)

5. Aus den vorangegangenen Beobachtungen zeichnen sich klar folgende Forderungen, denen sich eine Choreographie heute zu stellen hat, ab: Analyse dessen, was von Choreographen bereits infrage gestellt wurde, Arbeiten mit den vorgegebenen Bedingungen von Zeit und Raum, Analyse der Geschichte der Bewegung an sich und Erweiterung der Grenzen dessen, was choreographisch darzustellbar ist. Dem ist nicht viel hinzuzufügen, um zu erklären, wie und unter welcher Perspektive die in Belfort gezeigten Stücke beurteilt werden können – und was dieses Urteil dann auch legitimiert. Von den vier gezeigten Stücken ist „La vache en poudre“ von Kabinett ad Co / Paul Wenninger das einzige, das diese Herausforderungen ganz offensichtlich annimmt und sich ihnen auch stellt. Die wenigen zusätzlichen Angaben, die nun folgen, vervollständigen diese „Lektüre“.

Von der von Kabinett ad Co. gezeigten Arbeit behält man die Genauigkeit der Konzeption, die technische Qualität und die Ausdrucksstärke im Gedächtnis. Allein Folgendes ist bemerkenswert: ein leerer Raum, Halbdunkel, undeutlich ein Bücherregal, ein Sessel. Zwei Männer in grauen Anzügen, eine Frau in einem gelben Kleid bewegen sich in diesem Rahmen, irren herum, man hört Musik (M. Feldman). Unharmonische, abgehackte, zerrissene, automatisierte Bewegungen; sich verrenkende Körper, die in Katatonie, in Hysterie, in Krisis verfallen, zusammenbrechen; Auflösung der Koordinaten von Zeit und Raum. Der „Verfremdung“ ausgesetzt wehren sie sich gegen etwas, von dem man nicht weiß, was es ist; die Frau schlägt sich selbst. Ein Raum-Zeit-Kontinuum der Gleichzeitigkeiten, die Blicke aber treffen sich nicht. Haben sie eine Seele? Isolation, Instabilität, Ungleichgewicht: eine Choreographie auf der Höhe ihrer Zeit. Versuche, die Gegenwart zu verkörpern, unsere Jetztzeit, wo Körper, aber auch Raum und Zeit und somit auch Erfahrung ständig mit den neuesten wissenschaftlich-technischen Errungenschaften konfrontiert werden.

Was die Herangehensweise der drei Tänzer an die Choreographie betrifft beziehe ich mich auf das Gespräch, das ich hinterher mit ihnen geführt habe. Jeder der drei Tänzer hat sich mit etwas, das ich gerne als „körperliche Analyse eines Textes“ bezeichnen würde, auseinandergesetzt. Das heißt, mit einer „analogen“ Lektüre, einer Übertragung oder einer Übersetzung eines literarischen Textes in Körperbilder: „Malina“ von Ingeborg Bachmann („gelesen“ von Loulou Omer), „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Musil (Paul Wenninger) und „Das Buch von der Unruhe“ von Fernando Pessoa ( Pedro Rosa).
Bei einer derartigen „körperlichen“ Lektüre oder einer Übertragung funktioniert der Körper letztendlich nicht als ein Corpus von Signifikationen sondern eher als eine Art Tensor; dies ermöglicht es dem Körper, seiner Kraft und Energie freien Lauf zu lassen und die Bewegung in ihrer ursprünglichen, primitiven, archaischen Inkoordination zu belassen (hier brilliert jeder der drei Tänzer auf seine Art, Loulou Omer ist besonders bemerkenswert).

Auch wenn die drei zitierten Texte einander wahrscheinlich in ihrer Beschäftigung mit der Jetztzeit ähneln, so scheinen doch die Betrachtungen Musils die Choreographie zu bestimmen. Das Motiv Musils von der modernen Megalopole ist bekannt, einer Megalopole, geprägt von wissenschaftlich-technischem Denken, wo jeder einzelne mit einem Zuviel an Informationen konfrontiert wird, unfähig, Zeit und Raum zu konstruieren und das, was ihm widerfährt, auf erzählerische Weise zu verarbeiten und so Erfahrungen zu sammeln. (Nach Edgar Poe hat sich W.Benjamin mit dieser fehlenden Erfahrung beschäftigt, dem Verhalten, der Mimik und den automatisierten Bewegungen der Menschen in den ersten großen Städten.)
Einer Welt der Entwurzelung, der Diskontinuität, des Lebens „ohne innere Einheit“, schrieb Musil, in der die Menschen von den Göttern verlassen wurden und bestimmungslos sind: in genau diesem Universum irren die drei Tänzer, herum und winden sich, strukturlos, bestimmungslos: die Jüdin, der Abendländer und der Mischling, bis in die allerkleinste Bewegung.

Einzelne Bewegungen lassen mich sofort an „Watt“ denken, dessen seltsames Hinken den Verlust an Heimat und die Unfähigkeit, an Zeit und Raum zu glauben, erkennen lassen. (Und in der Tat hat Beckett, über Musil hinausgehend, mit „Der Namenlose“ den Mann ohne Eigenschaften bis zum äußersten Limit getrieben, dem Raum die Realität, der Zeit die Orientierung und den Menschen die Bestimmung genommen. Werden wir jemals eine „körperliche“ Analyse, eine Übertragung oder eine Übersetzung dieses Textes von Beckett in einer Choreographie sehen?)

(…)